P O S S E S S O R

Bischof, dann Erzbischof (eines nicht genannten Sitzes), bezeugt von 775 bis 784

Ein vermutlich 775 geschriebener Brief des Papstes Hadrian I.[1] an Karl den Großen[2] berichtet, dass der König ihm die Aussicht seines Besuchs im nächsten Oktober nach Italien eröffnet hat; der König wünsche, dass Hadrian seinen eigenen Gesandten, Bischof Possessor[3] und Abt Dodo[4], zwei genannte päpstliche missi beiordne. 
Ende 775 ist Bischof Possessor wieder als Karls des Großen Gesandter in Italien, diesmal mit Abt Rabigaudus[5]. Vier Briefe des Papstes beziehen sich auf diesen Auftrag[6]. Aus ihrem Inhalt[7] läßt sich das Itinerar der zwei missi herauslesen: Von Pavia, wo sie sich vermutlich Anfang November 775 befinden, begeben sie sich nach Perugia[8], Spoleto[9], Benevento[10], wieder nach Spoleto, um endlich im Januar/Februar 776 nach Rom zu kommen und den Heimweg Ende Februar/Anfang März 776 anzutreten. 
Des Weiteren wird ein episcopus namens Possessor in einem angeblichen Brief Hadrians I. an den Reimser Erzbischof Tilpinus genannt. Dieser interpolierte Brief[11] des Papstes stellt in seinem echten Anfangs- und Schlussteil[12] ein mandatum für Tilpinus von Reims[13] dar, zusammen mit Viomagus[14] und Possessor[15], Bischöfen und missi Karls des Großen, die Rechtmäßigkeit der Ordination und das Bekenntnis des Bischofs Luls von Mainz[16] zu prüfen, damit er diesem das Pallium zukommen lassen könne [17] . In seinem Glaubensbekenntnis [18] , das Lullus sicherlich 779/780 schrieb [19] , nennt er Viemadus, Tilpinus und Possessor als pontifices[20] und missi Karls des Großen.
Ein vermutlich 784 geschriebener Brief des Papstes an Karl den Großen[21] berichtet, dass Karl der Große durch ein Schreiben, das wohl Possessor[22] überbrachte, den Papst aufforderte in der Sache des vom König wegen Untreue angeklagten und abgesetzten Abt  Potho von S. Vincenzo al Volturno[23] ein Untersuchungsverfahren aufzunehmen. Darauf berief Hadrian zu diesem Zweck eine Versammlung[24], welcher eine Anzahl geistlicher und weltlicher Großer, darunter der Gesandte des Königs Erzbischof Possessor, teilnahm.
In keiner der erwähnten Quellen wird jedoch der Bischofs- bezw. Metropolitensitz angegeben[25].


[1] 772-795.
[2] Codex Carolinus Nr. 51, hg. von Gundlach W., in: Monumenta Germaniae historica - fortan MGH -, Epistolarum III. Epistolae merowingici et karolini aevi I, S. 571-573; Monumenta Carolina, ed. Jaffé Philipp, in: Bibliotheca rerum Germanicarum, t. IV, Berlin, 1867, Neudruck Aalen, 1964, Nr. 53 S. 175-179. Zum Inhalt dieses sicherlich 775 geschriebenen Briefes, vgl. Abel Sigurd, Jahrbücher des fränkischen Reiches unter Karl dem Großen 1, bearb. von Bernhard Simson, Leipzig 1888, S. 235-236; Bertolini Ottorino, Carlomagno e Benevento, in: Karl der Grosse. Lebenswerk und Nachleben. I: Persönlichkeit und Geschichte, hg. von Helmut Beumann, Düsseldorf, 1965, 609-671, hier S. 615.
[3] Zum Namen, der manchmal von Bischöfen getragen wurde, vgl. Morlet Marie-Thérèse, Les noms de personne sur le territoire de l'ancienne Gaule du VIe au XIIe siècle. II: Les noms latins ou transmis par le latin, Paris 1972, S. 91.
[4] Vielleicht Abt von Luxeuil (Cugnier, Gilles, Histoire du monastère de Luxeuil à travers ses abbés 590-1790, I, Langres - Saints-Geosmes, 2003, p. 245, 249).
[5] Vermutlich der Abt von Anisola (= Saint-Calais, Département Sarthe, Arrondissement Mamers), der 771 und 774 in zwei Urkunden Karls des Großen erwähnt ist (MGH DD Karol. 1 Nr. 62 S. 90-91 und 79 S. 113-114). Vgl. Hack Achim Thomas, Codex Carolinus. Päpstliche Epistolographie im 8. Jahrhundert, in: Päpste und Papsttum 35/2, Stuttgart 2007, S. 1018.
[6] Codex Carolinus Nr. 55, 56, 57, 52, wie Anm. 1, S. 578-583 und 573-574; Nr. 56, 57, 58, 59 S. 185-195 in den Monumenta Carolina. Diese Briefe, in der angegebenen Reihenfolge, wurden im November 775, Ende 775/Anfang 776, vermutlich im Februar 776 und Februar/März 776 geschrieben (vgl. Bertolini, wie Anm. 2, S. 615 Anm. 28).
[7] Zu ihrem Inhalt, vgl. Bertolini, ebd., S. 615-620; Abel/Simson, ebd., S. 240-249.
[8] Hauptstadt der Region Umbrien in Italien und der Provinz Perugia.
[9] Stadt in Umbrien, Provinz Perugia.
[10] Hauptstadt der Provinz Benevento in der Region Kampanien.
[11] Der Brief findet sich zum Teil in der zwischen 888 und 894 verfassten Vita Rigoberti episcopi Remensis, ed. Levison Wilhelm, in: MGH Scriptores rerum Merovingicarum 7. Passiones vitaeque sanctorum aevi Merovingici cum supplemento et appendice, Hannover 1920, S. 54-80, hier c. 14 S. 70-71, vollständig aber in einzelne Fragmente verlegt bei Flodoard von Reims, Die Geschichte der Reimser Kirche, hg. von Stratmann Martina, in: MGH SS 36, Hannover 1998, II, c. 13, 16, 17 S. 162-163, 167-169 (oder Historia Remensis ecclesiae, ed. Heller Johannes u. Waitz Georg, in: MGH SS 13, Hannover 1881, 405-599, hier S. 463-464) aus der Mitte des 10. Jahrhunderts, zusammenhängend bei Lesne Emile, La lettre interpolée d'Hadrian Ier à Tilpin et à l'église de Reims au IXe siècle, in:.Le Moyen Age 26 (2e série 17), Paris 1913, 325-351, 389-413, hier S. 349-351 unter Bezeichnung der echten und gefälschten Teile; auch ediert in Migne J.-P., Patrologia latina 96, 1851, Sp. 1212-1215, in: Histoire de l'Eglise de Reims par Flodoard, éd. et trad. M. Lejeune, Reims 1854 (Revue du Moyen Age latin, 38, Strasbourg 1982-1985, S. 315-321) mit französischer Übersetzung, Gallia Christiana 10, Paris 1751, Instrumenta Sp. 1-4. Vgl. Jaffé Philippe, Regesta Pontificum Romanorum ab condita ecclesia ad annum post Christum natum MCXCVIII. Editionem secundam correctam et auctam auspiciis Gulielmi Wattenbach curaverunt Samuel Löwenfeld – Ferdinand Kaltenbrunner – Paul Ewald, 1 (a S. Petro ad a. MCXLIII), Leipzig, 1885, Neudruck Graz, 1956, Nr. 2411 S. 293.
[12] "Die wohl tatsächlich echte Vorlage des Hadrian-Briefes dient als Anfang und Ende des Textes, dessen Mitte das lange Insert bildet" (Schneider Olaf, Erzbischof Hinkmar und die Folgen. Der vierhundertjährige Weg historischer Erinnerungsbilder von Reims nach Trier, in: Millennium-Studien 22, Berlin/New York 2010, S. 80-81). Dieses Papstschreiben wurde dann vom Reimser Erzbischof Hinkmar wohl 852 manipuliert, um "ein Gegenbild zu seiner eigenen Zeit" zu entwerfen (Schneider, ebd., S. 85). Dazu u. a. Lesne, wie Anm. 11, S. 325-348; Schmidt Hermann, Trier und Reims in ihrer verfassungsrechtlichen Entwicklung bis zum Primatialstreit des 9. Jahrhunderts, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 49, Kanonistische Abteilung 18, Weimar 1929, 1-111, hier S. 38-39; Schieffer Theodor, Angelsachsen und Franken. Zwei Studien zur Kirchengeschichte des 8. Jahrhunderts, in: Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse Jahrgang 1950 - Nr. 20. Akademie der Wissenschaften und der Litteratur, Wiesbaden 1950, 1427-1539, hier S. 1522-1523). Zu Hinkmars "Werken", s. Schneider, ebd., passim.
[13] Bischof, dann Erzbischof von Reims, bezeugt seit 769, gestorben vermutlich 794. Zu den Problemen, die seine Episkopatsdaten aufwerfen, s. Schneider, wie Anm. 12, S. 48-56.
[14] Weomadus von Trier.
[15] [...] assumptis tecum Viomago et Possessore, episcopis et missis gloriosi ac spiritalis filii nostri Karoli Francorum regis [...].
[16] Nachfolger Erzbischofs Bonifatius (zu dessen Tod, vgl. unten Anm. 19), gestorben 786.
[17] Hadrians echte Schreiben wurde wohl Ende der 70er Jahre an Tilpin gerichtet, denn Lul verfasste 779/780 sein Glaubenbekenntnis (s. Anmerkung 18).
[18] Original verloren. Überlieferung in einem Fritzlarer Kopialbuch des 15. Jahrhunderts. Drucke in Auswahl: Das Glaubensbekenntnis Luls, hg. von. W. Levison, in: Schieffer, wie Anm. 12, S. 1529-1535; Böhmer Johann Friedrich, Regesten zur Geschichte der Mainzer Erzbischöfe von Bonifatius bis Uriel von Gemmingen 742? - 1514. I. Bd., bearb. und hg. von Will Cornelius, Innsbruck, 1877, S. 40-41 Nr. 49. Vgl. Levison Wilhelm, England and the Continent in the eighth century, Oxford, 1966, S. 233-240.
[19] [...] Hanc fidem meam ego Lullus Moguntinensis civitatis antistes exposui anno duodeno regni domini nostri Carli regis gloriosissimi, pontificatus mei anno XXV [...]. Das 12. Jahr Karls d. Gr. began am 09. Oktober 779 und endete am 08. Oktober 780. Luls 25. Episkopatsjahr, setze man Bonifatius' Tod auf den 05. Juni 754 (oder 755, wie Wagner Heinrich, Bonifatiusstudien, in: Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 60, 2003, S. 207-226, 253), began demnach im Juni  779 oder 780). In einer Urkunde des Königs vom 08. März 780 (MGH DD Karol. I Nr. 129 S. 179-180) wird Lullus noch als Bischof aufgeführt, in einer anderen vom 04. Juli 782 (MGH DD Karol. I Nr. 142 S. 193-194) als Erzbischof.
[20] Laut Hadrians Brief (wie Anm. 11) war zu dieser Zeit Tilpinus schon Erzbischof und Reims Metropolitanbistum. Viomagus und Possessor erscheinen darin aber nur als episcopi (Lesne, wie Anm. 11, S. 349, 351). Nach Levison, England, wie Anm. 18, S. 234-235 mit weitgehender Zustimmung (noch Pangerl Daniel Carlo, Die Metropolitanverfassung des karolingischen Frankenreiches, in: Monumenta Germaniae Historica. Schriften 63, Hannover, 2011, S. 41-43) soll Viomagus/Weomadus schon Metropolit gewesen sei sowie vielleicht auch Possessor (Pangerl, ebd., S. 43-45; Anton Hans Hubert, Trier im frühen Mittelalter, in: Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte, Neue Folge 9,  Paderborn 1987, S. 197-198). Zu der Bezeichnung pontifices (= Bischöfe), vgl. Niermeyer Jan Frederik, Mediae Latinitatis lexicon minus. Lexique latin médiéval françaais/anglais = a medieval Latin-French/English dictionary, Leiden 1993, S. 812.
[21] Codex Carolinus Nr. 67, wie Anm. 2, S. 594-597; Monumenta Carolina, Nr. 68 S. 212-216. Der Brief ist vermutlich Februar 784 geschrieben worden (vgl. Bougard François, La justice dans le royaume d'Italie de la fin du VIIIe siècle au début du XIe siècle, in: Bibiothèque des Ecoles françaises d'Athènes et de Rome 291, Roma 1995, S. 409-410 Nr. 96; Bertolini, wie Anm. 2, S. 627; Houben Hubert, Karl der Große und die Absetzung des Abtes Potho von San Vincenzo al Volturno, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, 65, Tübingen 1985, 405-417, hier S. 409-410).
[22] Possessor ist vermutlich dieselbe Person wie der Bischof , der früher als Karls Gesandter erwähnt wird. Woher sein Erzbischoftitel sich zurückführen lässt, ist nicht bekannt (vgl. unten Anm. 25).
[23] Auf dem Gebiet der heutigen Gemeinden Castel San Vincenzo und Rocchetta a Volturno, in der Provincia di Isernia.
[24] Zu dieser Versammlung, vgl. Houben, wie Anm. 21, S. 405-417; Bertolini, wie Anm. 2, S. 626-631; Abel/Simson I, ebd., S. 466-468.
[25] Zusammenfassung der Frage bei Pangerl, wie Anm. 20, S. 137-139 Anm. 592; Hack, wie Anm. 5, bes. S. 1017-1018. Dass Possessor Erzbischof von Tarentaise, Bistum, das die Gegend um den Ort Moûtiers-en-Tarentaise, heute Dépt. Savoie, Arr. Albertville, umfasste (Gallia Christiana in provincias ecclesiasticas distributa 12, Paris 1770, Sp. 702-703, gefolgt von der lokalen Geschichtsschreibung; vgl. dazu L'archidiocèse de Tarentaise, hg. von Gilomen-Schenkel Elsanne, in: Helvetia Sacra I/5, Basel 2001, S. 590 Anm. 11 und S. 599), oder von Embrun (Dépt. Hautes-Alpes, Arr. Gap) gewesen sei, ist problematisch, da Tarentaise und Embrun frühestens nach der Synode von Frankfurt von Juni 794 zum Metropolitanbistümer erhoben wurden (c. 8 des Kapitulars, MGH Legum sectio III. Concilia II/1: Concilia aevi Karolini I/1, recensit Albert Werminghoff, Hannover-Leipzig, 1906, S. 167: Eine Entscheidung in der Frage des Metropolitenstatus von Tarentaise, Embrun und Aix-en-Provence wurde nicht getroffen; man beschloss, das Problem dem Heiligen Stihl vorzulegen und dessen Entscheid anzuerkennen). Die ebenfalls manchmal vorgeschlagene Diözese Toul kommt nicht in Frage. Sollte die Charakterisierung als Erzbischof ein Versehen sein? 

29.07.2015