S I G O B A L D U S[1]

Abt des Klosters Anisola (= St. Calais), bezeugt im Jahr 752

Auf Antrag des Abtes Sigobaldus[2] von Anisola[3], der sich und seine Klostergemeinschaft König Pippin kommendiert hat[4], nimmt dieser am 25. April 752[5] in der Pfalz Herstal[6] Abt und Konvent in seinen Schutz[7] und verleiht freie Abtswahl[8].
Ein Fragment der Gesta domni Aldrici Cenomannicae urbis episcopi[9] kurz Memoriale genannt[10] berichtet[11], dass, als Pippin von einem Feldzug[12] über den Maine zurückkam, Bischof Gauziolenus und sein Bruder ihm die Tore von Le Mans verschlossen; Pippin hätte die Umgebung verwüstet und die Mönche von Anisola aufgefordert, ihr Gehorsam zum Rebellen Gauziolenus aufzukündigen und sich unter seinem mundeburdo vel sua tantummodo tuitione vel dominatione stehend zu betrachten. Ihnen und ihrem Abt Siebaldus habe er entsprechend eine Urkunde ausgestellt[13]. Siebaldus wagte nicht an Ort und Stelle zu bleiben und folgte Pippin in die Francia[14].


[1] Sicbaldus, Sichaldus, Siebaldus.
[2] Für die Zeit von 712/715 bis 752 ist kein Abt von St. Calais mit Sicherheit belegt. Die Serie der Immunitätsprivilegien für das Kloster bricht mit Dagobert III. (Urkunde vom 18. Januar 712/715: Die Urkunden der Merowinger, nach Vorarbeiten von Carlrichard Brühl hg. v. Theo Kölzer unter Mitwirkung von Martina Hartmann und Andrea Stieldorf,  1 [MGH DD regum Francorum e stirpe merovingica, Hannover, 2001], Nr. 160 S. 399-400), ab und erst wieder mit Pippin einsetzt (siehe unten Anm. 5). Daraus kann gefolgert werden, dass das Kloster seine von der Bischofskirche unabhängigen Stellung eingebüßt und dieser unterstanden hat (Weidemann Margarete, Geschichte des Bistums Le Mans von der Spätantike bis zur Karolingerzeit. Actus pontificum Cenomannis in urbe degentium und Gesta Aldrici, Teil 2: Die Urkunden, Mainz, 2002, S. 256). Erst in einer Precarienbestätigung König Childerichs III. (743-751), die geringstenfalls sehr interpoliert ist, wenn nicht gar eine Fälschung darstellt, ist wieder ein Abt genannt (Weidemann, ebd., Nr. 27B S. 254-259). Dieser sonst unbekannte Abtbischof (pontifex abbas) Dido, der das Kloster vom Bischof Galliolenus (Gauziolenus von Le Mans) als Precarie und beneficium erhalten haben soll, ist möglicherweise niemands anders als Chorbischof Desideratus von Le Mans, der in den Actus pontificum Cenomannis in urbe degentium zur Zeit Bischofs Gauziolenus genannt wird (Weidemann, ebd., Teil 1: Die Erzählenden Texte, S. 92 und 99).
[3] Saint-Calais, dépt. Sarthe, arr. Le Mans, chef-lieu de canton.
[4] [...] Comperiat caritas seu industria vestra, quia Sigobaldus abbas de monasterio Anisola, qui est in honore sancti Karilefi confessoris constructus in pago Cinomannico (Maine) in condita Labrocinse (Lavardin, dépt. Loir-et-Cher, arr. Vendôme, cant. Montoire-sur-le-Loir), ad nos venit et de sua propria potestate semetipsum et illam congregationem sanctam quam in regimen habet et omnes res eorum in manu nostra plenius commendavit; et nos gratanti animo ipsum et congregationem eius in nostro mundeburdo suscepimus vel retinemus.[…].
[5] Überlieferungen: Abschrift von André Duchesne († 1640)  im Recueil historique 0916 der Bibliothèque municipale in Dijon (Herr Gérard Rico hat mir freundlicherweise eine Kopie der Urkunde zukommen lassen) unter dem Titel "Copie partielle du cartulaire de l'abbaye de Saint-Calais du Désert", fol. 38; Abschrift von 1709 einer 863 zusammengestellten Sammlung von merowingischen und karolingischen Urkunden (Havet Julien, Questions mérovingiennes IV: Les chartes de Saint-Calais, in: Bibliothèque de l'Ecole des Chartes 48, 1887, 5-58 und 209-247, wiederabgedruckt in: ders., Oeuvres 1, Paris, 1896, 103-456, hier S. 114-120. Druck: MGH DD Karol. 1, Nr. 2 S. 4-5; Œuvres de Julien Havet, ebd., Nr. 8 S. 166-167. Vgl. Le Maître Philippe, Le corpus carolingien du Mans: étude critique, 2: Pièces justificatives et annexes. Thèse pour le doctorat de troisième cycle, deux volumes dactylographiés, Paris X – Nanterre, 1980, S. 178; BM² 66 S. 33; Gallia Christiana 14, Paris, 1856, Sp. 447. Diese Urkunde wurde sicherlich vor dem Dynastiewechsel (751) in der "Kanzlei" des Hausmeiers Pippin vorbereitet, aber aus einem unbekannten Grund erst nachher vollzogen (Havet, ebd., S. 141-142; dazu unten Anm. 13).
[6] […] actum ad Arestalio palatio publico […]: Belgien, Provinz und Bezirk Lüttich/Liège. Zur Pfalz Herstal, siehe Joris André, Le palais carolingien d'Herstal (Le Moyen Age 79, 1973, 385-420).
[7] Mundibordium: königlicher Schutz. Siehe Tessier Georges, Diplomatique royale française, Paris, 1962, S. 63-64; Niermeyer J. F. †, C. ) Van de Kieft, Mediae Latinitatis lexicon minus. Lexique latin médiéval – français/anglais. A medieval latin-french/English dictionary, Leiden, New York, Köln 1993,  S. 708-709 Nr. 3. Erst 760 ausweitete König Pippin dem vom Abt Nectarius geleiteten Kloster seinen Schutz in eine volle Immunität (MGH DD Karol. 1, Nr. 14 S. 19-20).
[8] Laut einer Fälschung datiert auf den 26. Juni im 10. Regierungsjahr Chilpericus (gemeint ist Childerich III., 743-751) verpflichtet sich der sacerdos atque monachus Sicbaldus gegenüber Bischof Gauziolenus von Le Mans zur Zahlung eines Census für das von ihm auf Lebzeit zur Nutznießung erhaltene Kloster Anisola. Am 15. März möglicherweise im Jahr 749 soll König Chilpericus auf Bitten des Bischofs Gauziolenus von le Mans diese Precarie des Abtes Sicbaldus bestätigt haben. Letzte genannte Urkunde gilt auch als Fälschung, wobei Weidemann nicht ausschließt, dass es sich um eine authentische interpolierte Urkunde handeln könnte (Überlieferung: im 12. Jahrhundert kompilierte Ms. 224 der Bibliothèque municipale von Le Mans: Weidemann, wie Anm. 2, Nr. 28 S. 259-261 und 80F S. 391-393; Die Urkunden der Merowinger, nach Vorarbeiten von Carlrichard Brühl hg. v. Theo Kölzer unter Mitwirkung von Martina Martmann und Andrea Stieldorf, 1 [MGH DD regum Francorum e stirpe merovingica, Hannover, 2001], Nr. 195 S. 484-485: Fälschung ohne Jahresangabe; Actus pontificum Cenomannis in urbe degentium, publiés par G. Busson et A. Ledru [Archives historiques du Maine 2], Le Mans, 1901, S. 248-252; vgl. Le Maître Philippe, wie Anm. 5, S. 219-220, 264-265).
[9] Die Gesta wurden zwischen der Synode von Bonneuil auf den 24 August 855 datiert und dem Königsgericht in Verberie am 29. Oktober 863 niedergeschrieben, als der Bischof von le Mans versuchte, das Kloster St. Calais in seine Gewalt zu bringen (Weidemann, 1, wie Anm. 2, S. 1-3).
[10] Überschrift: Incipit Relatio vel Evindicatio sive Memoriale, qualiter monasterium Anisolae ad ius Cenomannicae matris aecclesiae ante domnum Hludowicum imperatorem ab Aldrico episcopo canonice et legibus evindicatum fuit.
[11] Dieser Bericht soll aus der Sicht des Fälschers erklären, wieso es dazu kam, dass seinerzeit Pippin das Kloster unter seinen Schutz stellte. "Das Zusammenbringen des Verlusts von St. Calais mit einem gegen Gauziolenus und Charivius gerichteten Feldzug Pippins kann durchaus einen echten Kern enthalten, d. h. die Vorgänge können zur Neuordnung der Verhältnisse zwischen Seine und Loire nach der Flucht Grifos [12] Es könnte sich um Pippins Heereszug gegen die Bretonen handeln (Annales Mettenses priores fälschlich zu 753, MGH SS rerum Germanicarum [10], hg. v. Bernhard von Simson, 1905, ND 2003, S. 44; vgl. dazu Brunterc'h Jean-Pierre, Le duché du Maine et la marche de Bretagne (Beihefte der Francia, 16/1. La Neustrie. Les pays au nord de la Loire de 650 à 850, publié par Hartmut Atsma, 1, 1989, 29-119), S. 43.
[13] Es handelt sich ohne Zweifel um die oben besprochene Urkunde. Diese wurde sicherlich vor dem Dynastiewechsel (751) vorbereitet (vgl. oben Anm. 5; auch Heidrich Ingrid, Titulatur und Urkunden der arnulfingischen Hausmeier [Archiv für Diplomatik 11/12, 1965/66, 71-279], S. 137 Anm. 298; dies., Die Verbindung von Schutz und Immunität. Beobachtungen zu den merowingischen und frühkarolingischen Schutzurkunden für St. Calais [Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 90. Germanistische Abteilung, 1973, 10-30], S. 10-13; Semmler Josef, Pippin III. und die fränkischen Klöster [Francia 3, 1975, 88-146], S. 125).
[14] Weidemann, 1, wie Anm. 2, S. 154-164; MGH Conc. II/2, S. 837 , "Es handelt sich um einen Entwurf für den neuen Bericht über die Rückgewinnung von St. Calais unter Berücksichtigung der Argumentation von Verberie" (Weidemann, 1, wie Anm. 2, S. 26. Derselbung Meinung ist Goffart Walter, The Literary Adventures of St. Liborius [Analecta Bollandiana 87, 1969, 5-62], S. 57-59. Dagegen setzt Le Maître, wie Anm. 5, Vol. 1: Texte de l'étude, S. 121, die Verfassung dieses Teils um 850/855; ders., L'oeuvre d'Aldric du Mans et sa signification 832-857 [Francia, 8, 1980, 43-64], S. 44).

13.08.2012